stirb niemals
Augusta Raurica, einst stolze römische Koloniestadt und reges Handelszentrum in bester Verkehrslage, zeigt sich heutigen Besuchern als größter archäologischer Park auf schweizerischem Gebiet. In diesem Roman ist die Römerstadt Hauptthema, zugleich aber auch Rahmen für Geschichten und Geschichte aus verschiedenen Jahrhunderten. Die antiken Götter erwachen zu neuem Leben, geben sich aber nicht zufrieden mit einer Existenz in der Museumsvitrine. Nach jahrhundertelangem Schlaf versuchen sie, sich einen Überblick über ihre Vergangenheit zu schaffen, besuchen Weiterbildungen an der Götterhochschule und spähen durch Zeitfenster in frühere Jahrhunderte. Sie folgen den früheren Bewohnern Augusta Rauricas, nehmen an deren Schicksal teil. Bald aber mischen sie sich aktiv in die Welt des modernen Wissenschaftsbetriebes ein und stiften damit Verwirrung. Mitten durch das Römerfest spazieren sie, durchschreiten dabei Stadtquartiere und zeitliche Ebenen. Manche von ihnen finden sich durch multiple Präsenzen in Identitätsprobleme verstrickt.
Susanne Cho
stirb niemals
Augusta Raurica Roman
In diesem Roman verweben sich Geschichten mit Geschichte, Fiktion mit Wissenschaft, Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft. Zeitfenster eröffnen Blicke auf die Koloniestadt mit ihren Bewohnern, auf die Welt der lokalen Götter, die sich bald schon aktiv ins Geschehen der Forschungsstadt Augusta Raurica einmischen. Mitten durch das Römerfest bewegen sich die Gestalten aus alten Zeiten.  

Reihe: skepsis & leidenschaft / Band 6
mit Glossar, Göttereverzeichnis, 43 Illustrationen, 8 Karten

© Skepsis Verlag, Zürich 2013
560 Seiten. Softcover, Format 12 x 19 cm, 590 g
Europa: 22 EUR / Schweiz: 23 CHF
ISBN 978-3-9521140-9-4

 

Susanne Cho, 1952 in Zürich geboren, besuchte das altsprachliche Gymnasium, studierte Kunstgeschichte und Psychologie und promovierte an der Universität Zürich. Fachausbildung in Psychotherapie. Sie arbeitet heute als Psychotherapeutin in Zürich. Ihre intensive Beschäftigung mit Archäologie und antiker Geschichte führte sie auf zahlreiche Reisen in die Gebiete der ehemals römischen Provinzen, unter anderem nach Nordafrika, Syrien und Jordanien, und häufig nach Rom.

susanne cho
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Kapitel 10
Sandalen

»Beim Orcus, wo sind nur wieder meine Sandalen geblieben! Immer wenn ich diese Dinger brauche, sind sie unauffindbar.«
Missmutig erhebt sich Merkur von seinem Felsensitz am Kastelenabhang. Eine kleine Verschnaufpause hatte er sich gönnen wollen, bevor er die mühsame Arbeit in Angriff nimmt. Nun steht die Sonne schon fast im Mittag. Das Nickerchen hat ihn länger aufgehalten als beabsichtigt. Prometheus, dieser Himmelhund! Er ist es, der ihm die Aufgabe eingebrockt hat. Und Mercurius, einst berühmt als Gott der Redekunst, der Ausreden, der List und Tücke, war so einfältig gewesen, sie anzunehmen. Nach einer dreistündigen Diskussion, die unausweichlich in einen feurigen Monolog des Titanen mündete, hatte er endlich eingewilligt. Nicht nur aus Erschöpfung, nein, sondern weil er selbst Feuer fing, je länger er Prometheus zuhörte. Ein genialer Kerl! Während sich die alten Götter gezeichnet vom Schreck ihres Untergangs mit einem Schattendasein zufrieden geben, entwickelt Prometheus – einmal mehr – einen grandiosen Plan. Ob er gelingen wird, ist eine andere Sache. Ist es möglich, über die Forschung Einfluss zu nehmen auf das Schicksal von Augusta Raurica und damit auch auf das eigene Geschick? Keiner der alten Götter wäre in der Lage, auf so einen verrückten Gedanken zu kommen. Schicksal ist Schicksal und lässt sich grundsätzlich nicht beeinflussen. Ein unumstößliches Gesetz, dem auch Götter sich zu beugen haben. Was aber, wenn unumstößliche Gesetze plötzlich an Gültigkeit verlieren, oder womöglich nur unumstößlich sind, weil man an sie glaubt? Mit der Sterblichkeit der Unsterblichen hat Prometheus ein schlagendes Beispiel geliefert. Sie, die Unsterblichen, haben das bittere Los des Unsterblichkeitsverlustes erlitten, den Tod zu schmecken bekommen. Als niemand mehr an sie glaubte, war das ihr Ende. Umgekehrt gibt es, seit Altertumsforscher angefangen haben, sich für sie zu interessieren, neue Lebensformen für die Götter. In logischer Konsequenz müsste man sich also auf diese Kreise konzentrieren, um das eigene Schicksal zu beeinflussen, hatte Prometheus überzeugend argumentiert. Ein langfristiges Projekt, bei dem die Zusammenarbeit aller Götter gefragt wäre. Das allerdings ist ein aufreibendes Unterfangen. Der Titan wird alle seine Redekünste brauchen, um den bunten Haufen rivalisierender Götter vor seinen Wagen zu spannen. Merkur ist heilfroh, dass dieser Teil der Aufgabe nicht auf seinen Schultern lastet. Da ist doch das Überbringen der Einladungen zur Göttervollversammlung geradezu Honiglecken. Eine arge Schinderei könnte es aber trotzdem bedeuten, jedes einzelne Göttchen, das in den letzten Jahrhunderten den dunklen Tiefen des Erdreichs von Augusta Raurica entrissen wurde, aufzuspüren. Aber wer soll es sonst machen? Niemand ist dazu besser gerüstet als er.
Merkur greift nach seinem Kopf und nickt beruhigt. Immerhin, sein Flügelhut, der Petasos, ist noch dort, wo er sein sollte. Doch ohne die Flügelschuhe ist er bei den beträchtlichen Distanzen zwischen Oberstadt und Unterstadt aufgeschmissen. Heroldsstab und Geldbeutel fehlen ebenfalls. Er bückt sich und sucht den Boden ab. Ein unterdrücktes Kichern ertönt.
»Ruft man in solchen Fällen nicht jeweils Gott Mercurius an, den Gott des glücklichen Fundes?«
»Amor, du elender Schuft, komm sofort aus deinem Versteck hervor! Hätte ich mir gleich denken können, dass du es bist.«
Mit halb geöffneten Flügeln flattert Amor herbei. Er grinst über das ganze Gesicht.
»Du wirst wohl nie erwachsen. Ein wahrer Dieb ist aus dir geworden.«
»Dann hör auf, mich anzumachen, Merki, du bist ja immerhin der Gott der Diebe, oder nicht?«
Merkur liebt es, auf sein erstes Heldenstück angesprochen zu werden. Kaum geboren habe er, so sagt man, als erste Tat seinem Halbbruder Apollo eine Rinderherde gestohlen. Das liegt Ewigkeiten zurück und gehört in eine weit frühere Existenz. Trotzdem hat Merkur diesen Ruf nie wieder verloren. Auch Diebe brauchen einen Fürsprecher und Schutzpatron. Nur schon aus diesem Grund hegt er für Prometheus Sympathien. Prometheus der es gewagt hat, das Feuer vom Olymp zu stehlen, unter den Augen des Göttervaters persönlich.
»Schlagfertig bist du ja, das muss man dir lassen. Aber gib mir jetzt den Reisemantel und meine Flügelsandalen, ich habe zu arbeiten.«
»Die kriegst du nur, wenn du mir sagst, was du vorhast. Es sieht mir ganz nach geheimer Mission aus.«
»Mission ja, geheim eher weniger.«
Amor streckt sich und pflückt die geflügelten Sandalen sowie Merkurs Mantel von den Ästen eines blühenden Strauchs. Prüfend hält er die schwere Chlamys vor sich hin. Sie reicht ihm bis zu den Füßen.
»Krasser Overkill für einen Maientag«, spöttelt er und macht dabei keinerlei Anstalten, Merkur die Sachen zurückzugeben. »Was versteckst du dich eigentlich unter diesem Teil, so übel siehst du doch nicht aus, du mit deinem Sixpack?« Mit spitzen Fingern tippt Amor Merkurs nackten, gut modellierten Oberkörper an.
Merkur horcht auf. Nicht das fremde Wort, das höchstwahrscheinlich auf seine Muskulatur anspielt, gibt ihm zu denken, sondern der Tonfall. Ist da etwa Neid herauszuhören? Das wäre neu! Amor selbst trägt einen gegürteten, sehr kurzen Chiton, der nur knapp das Gesäß bedeckt. Das flegelhafte Verhalten des Gottes steht in scharfem Kontrast zu seiner äußeren Erscheinung. Er sieht noch immer aus wie ein herausgeputztes Kind. Für die Pausbacken kann er ja nichts. Doch die Kinderfrisur mit dem Scheitelzopf und den gedrehten Locken müsste wirklich nicht mehr sein. Da steckt bestimmt Venus dahinter, die ihren Sohn wie ein Schoßhündchen zu halten versucht. 
»Also, was geht hier ab?«, fragt Amor. »Du und Prometheus, ihr seid ja voll in Action. Seit Wochen stresst der Titan ruhelos auf dem Gelände herum. Was läuft da, Mann?«
»Prometheus will eine Götterversammlung einberufen, und ich habe die Aufgabe gefasst, es den Geladenen mitzuteilen.«
Unwillig wirft Amor Mantel und Sandalen vor Merkurs Füße.
»Mann! Dann hättest du aber Gas geben müssen, um mir Bescheid zu sagen.«
»Genau! Du hast mir eine mühsame Suchaktion erspart.«
»Warum gibt es denn plötzlich eine Götterversammlung? Das ist doch mega-out!«
»Deine Sprache ist entsetzlich. Wo treibst du dich eigentlich so herum?«
»Ich hänge mit den Schulklassen im Römerhaus, in der Curia, im Amphitheater, wenn sie hier das Gelände abgrasen. Irgendwie muss man ja dafür sorgen, dass man den Anschluss nicht verpasst. Unter den Göttern gibt es mehr oder weniger nur Gruftis. Der Einzige, der noch einigermaßen zu meiner Generation passt, wäre Gany, doch der ist mega abgerichtet, weil er dem Alten gefallen will.«
»Und Harpokrates?«
»Verschon mich! Harpi ist so was von uncool.«
Wenn Amor unter ›uncool‹ kindlich versteht, so ist zwischen Harpokrates und Amor kein gewaltiger Unterschied zu verzeichnen, denkt Merkur, zumindest nicht im Aussehen, höchstens im Auftreten. Merkur verzichtet auf weitere Fragen und nutzt stattdessen die Gelegenheit, Amor zu warnen: 
»An der Versammlung musst du dich aber benehmen. Es gibt strenge Regeln, an die auch du dich zu halten hast, sonst bist du draußen.«
»Und die wären?«
»Keine Waffen! Liebespfeile und Bogen bleiben zu Hause. Es wird kein Unfug getrieben; es geht um eine ernste Sache.«
»Um was denn?«
»Um unseren Untergang. Beziehungsweise darum, wie wir ihn verhindern können.«
»Geil! Ein neues Game? Armageddon?«
»Es ist kein Spiel, es ist echt!«
»Eine Realityshow?«
»Keine Ahnung, was das sein soll. Aber ja, es ist real. Ich habe jetzt keine Zeit, dir alles zu erklären. Prometheus wird informieren, wenn alle versammelt sind. Wir treffen uns in der Curia an den …, am ersten Junitag, bei Sonnenaufgang.«
»Du kannst ruhig sagen an den Kalenden des Juni, zur ersten Stunde. Ich habe eure Sprache nicht verlernt.«
»Gut zu wissen«, murmelt Merkur. »Sonst müssten wir an der Versammlung einen Übersetzer für dich organisieren.«
Merkur blickt Amor nach, wie er, halb hüpfend, halb fliegend, den Abhang erstürmt. Unwillkürlich vergleicht er ihn mit Jugendlichen, die im Schulklassenverband Augusta Raurica besuchen. Wenn man dieses göttliche Früchtchen vor Augen hat, gerät man ins Fürchten, dass begabte Gleichaltrige menschlicher Natur sich bald besser in der alten Welt auskennen als der Gott selbst. Anderseits wäre das ja, falls Prometheus recht hätte, gar nicht möglich. Je mehr junge Menschen mit diesen Dingen vertraut sind, umso stärker müsste das auf die Götter zurückwirken. Eine verkehrte Welt!
Kopfschüttelnd bückt sich der Götterbote nach seinen Sachen. Einen Augenblick lang erwägt er, die Reiseausrüstung, die er aus der Insula 18 mitgebracht hat, hier in seinem Zuhause am Kastelen Abhang liegen zu lassen und sich nackt auf den Weg zu machen. Den Mantel bräuchte er heute tatsächlich nicht – es ist ein milder Tag –, die Flügelschuhe aber umso mehr. Wohl oder übel entschließt er sich für die Vollmontur.
Zum Glück muss er sich nicht über all die Probleme des Untergangs den Kopf zerbrechen. Da ist ihm der Dienst als Bote doch noch lieber. Er greift nach dem Heroldsstab und seinem prall gefüllten Geldbeutel, den er vor seinem Nickerchen mit Bedacht versteckt hat. Wohlstand, Vermögen, Geld sind noch immer die Fragen, denen er sich am bereitwilligsten widmet, darum war er lange auch der populärste Gott der Stadt, nicht nur bei Händlern und Dieben. Kaum ein Hausaltar, an dem ihm nicht geopfert wurde. Und heute? Heute muss er froh sein, dass es ihn wieder gibt, wenn auch in einem kümmerlichen Dasein. Nicht etwa, dass das Geld im aktuellen Geschehen eine kleinere Rolle spielte. Diesen Eindruck hat Merkur gar nicht, im Gegenteil. Aber man konsultiert ihn nicht mehr. Selber schuld, wenn sie von einer Finanzkrise in die andere schlitterten. Das war zwar, wenn er ehrlich zu sich sein wollte, auch schon der Fall, als man ihm noch huldigte.
Seufzend prüft Merkur die lange Liste der Götter, die er zu benachrichtigen hat.
Iuppiter gebührt die Ehre des ersten Besuches. Eine Frage der Höflichkeit, auch wenn der Göttervater heute keine prominente Rolle mehr spielt. Und Merkur hat Glück. Von seinem Rastplatz aus entdeckt er ihn vor dem Römerhaus, wie er in gekonnt ungezwungener Pose vor dem Ausgang wartet. Er macht noch immer eine gute Figur mit seinem Vollbart, seinem Lorbeerkranz auf den Locken und der lässig übergeworfenen Chlamys.
Ohne Umschweife überbringt Merkur seine Botschaft. Den Plan einer Götterversammlung heißt Iuppiter gut, er muckt nicht einmal, als er erfährt, von wem die Idee stammt. Diesmal handle Prometheus im Sinne der Götterwelt, lautet sein Kommentar.
So sicher ist sich Merkur da nicht. Über die wahren Pläne des Titanen kann er vorläufig nur spekulieren, Prometheus war noch nie leicht zu durchschauen, berechenbar ist er schon gar nicht. Dennoch nickt der Götterbote zustimmend, erleichtert, dass Iuppiter keine Schwierigkeiten macht.
»Prometheus denkt also, dass man über die Wissenschaft Einfluss auf das Geschick der Götter nehmen könnte«, sagt Iuppiter lebhaft interessiert. »Ein schlauer Kopf, dieser Titan, das muss man ihm lassen.«
»Das war er schon immer«, meint Merkur, unterlässt es aber, seine Aussage mit Beispielen aus der Vergangenheit zu belegen. Nur keine alten Empfindlichkeiten wecken!
»Das würde bedeuten, dass wir unbedingt gute Beziehungen zu den Forscherinnen pflegen müssten.«
»Nun ja, auch zu den Forschern«, meint Merkur, bereits ahnend, was in Iuppiter vor sich geht, der noch immer nervös den Eingang des Römerhauses fixiert, als fürchte er, jemand ganz Bestimmten zu verpassen.
»Warum auch nicht, ich habe nichts gegen junge Männer, das weißt du ja, aber«, führt er bereitwillig aus, »in diesem Haus arbeitet eine honigblonde Schönheit, die es mir ganz besonders angetan hat. Ihr strahlendes Lächeln ist süß wie Nektar, ihre Augen ...«
»Eine Archäologin?«
»Oh ja, eine namhafte sogar!«
»Auf welchen Namen hört denn deine Angebetete?«
Iuppiter wirkt für einen Augenblick verlegen.
»Noch kenne ich ihren Namen nicht, doch werde ich ihn mit Leichtigkeit herausfinden, denn sie ist bekannt in der Fachwelt. Ich werde die Aufgabe übernehmen, den Kontakt zu ihr zu pflegen und sie für unsere Beeinflussung empfänglich zu machen.«
»Empfänglich machen willst du sie?« Merkur schmunzelt vielsagend. »Du kannst von Glück sagen, dass Iuno nicht vor Ort ist, sie hätte für solche Empfänglichkeiten wenig Verständnis.«
»Ja, ja! Vorläufig ist sie erst sehr abstrakt in Augusta Raurica präsent, sozusagen nur als Idee, oder als Ahnung.«
»Du meinst wohl eher als Mahnung!«
»Vielleicht ließe sich ja die Wiederkunft meiner Gattin durch geeignete Beeinflussung der Leute hier im Haus noch etwas hinauszögern. Solange Iuno nicht physisch anwesend ist, lässt mir das wesentlich mehr Bewegungsfreiheit in meinen Aktivitäten. Ich könnte mich der auserwählten Mitarbeiterin widmen, was doch ganz im Sinne unserer gemeinsamen Sache wäre, nicht wahr?«
Merkur nickt. Was für ihn zählt ist, dass Iuppiter sich nicht quer stellt – aus welchen Motiven auch immer.
Nach der erfolgreichen Unterredung mit dem Göttervater begegnet ihm ein Lar im Tanzschritt. Merkwürdigerweise ist er allein unterwegs. Merkur übermittelt ihm die Einladung; die Laren gehören nun mal auch zu den Göttern, wenngleich nicht zu den bedeutendsten. Nun ja, aus Sicht der Familien, die täglich ihren Laren auf dem Hausaltar opferten, waren sie vielleicht wichtiger als mancher Olympier. Doch in der Hierarchie der Götter genossen sie schon damals wenig Prestige. Sie werden bei der Versammlung mit den hinteren Rängen Vorlieb nehmen müssen. Der Lar – er hat ein strahlendes, elegantes Auftreten und gehört zur Insula 5 – übernimmt bereitwillig die Aufgabe, die übrigen Laren zu benachrichtigen. Merkur ist erfreut, diese aufwendige Arbeit so mühelos vom Hals zu haben, denn auf dem Gelände tummelt sich so mancher Lar. Eigentlich wäre jetzt wieder eine Ruhepause fällig, doch angesichts der langen Liste scheint eine weitere Rast unangebracht.
Jetzt aber los! Merkur gibt sich einen Ruck. Als Nächsthöchste in der Rangfolge wären nun Apollo und Minerva zu berücksichtigen. Er entscheidet sich für Minerva, denn Apollo ist allgegenwärtig und dementsprechend überall mühelos anzutreffen. Außerdem hat Bruder Apollo mitunter ein ausgesprochenes Redebedürfnis. Entsprechend könnte ein Besuch bei ihm viel Zeit kosten, Zeit, die Merkur jetzt nicht hat.
Der geflügelte Hut und die Flügelsandalen tragen ihn ans gewünschte Ziel: Insula 37. Doch keine Spur von der geharnischten Göttin. Sie ist offensichtlich außer Haus. Nach kurzem Überlegen kommt Merkur zum Schluss, dass er sie am ehesten im Gewerbehaus finden könnte, wo Minerva gleich zwei Häuser bewohnt. Besonders in dem einen hält sie sich recht häufig auf, ganz wie Merkur selbst, der dort zeitweise als ihr Nachbar lebt. Insula 37 in der Oberstadt ist als Wohngegend zwar vornehmer, wobei die Lage unmittelbar neben den Thermen besonders in früheren Jahrhunderten nicht nur Annehmlichkeiten bot. Zwar war der Standort zweifellos unterhaltsam, weil ganz Augusta Raurica sich in den Zentralthermen traf. Man profitierte auch von den zahlreichen Garküchen entlang der Porticus von Insula 31. Doch musste man im Gegenzug ziemlich viel Lärm in Kauf nehmen. Heute ist bei den Zentral­thermen nicht mehr viel los. Minerva scheut nicht etwa den Thermenlärm, sondern das gegenwärtige Zuviel an Ruhe, bei dem es ihr schnell langweilig wird. Sie ist keine Stubengelehrte. Sie liebt die Atmosphäre des Gewerbehauses, die handwerkliche Betriebsamkeit, das geschäftige Treiben.
Der Götterbote lässt sich also vom Wind Richtung Unterstadt tragen und beim Grundstück des Gasthofs an der Straße nach Raetien, das sie heute Schmidmatt nennen, absetzen. Über eine L-förmige Rampe gelangt er auf den gepflasterten Innenhof, der das mittlere Haus erschließt. Der Unterstand für Wagen und Pferde wirkt verlassen, einzig ein paar Hipposandalen weisen auf seine eigentliche Bestimmung hin. Auch die Küche scheint menschen- und götterleer, zumindest soweit Merkur es überblicken kann. In der Hoffnung, Minerva – in welcher Gestalt auch immer – in den inneren Räumen anzutreffen, öffnet der Gott eine Glastür, die ihn in das Gebäude der allerneuesten Bauphase führt. Wie sonderbar, dass die aktuellen Bauherren ihre gläserne Gebäudewand mitten durch die Küche gezogen haben, denkt er sich, als ein Schwall heißfeuchter, stickiger Luft ihm den Atem verschlägt. Er wirft einen Blick um sich. Glas, überall Glas. Das hat wohl Vorteile für die Lichtverhältnisse, die Luft aber ist unerträglich. Er schließt die Augen, blendet die neue Gebäudehülle aus und konzentriert sich auf den alten Gebäudezustand. Über den östlichen Dienstraum betritt er den Korridor des Hauses. Im Schatten der Mauern fühlt er sich besser, wohltuend auch das dämmrige Licht. Die Atemluft aber wird nicht erträglicher, ganz im Gegenteil. Merkur macht kehrt und flüchtet sich in den besser belüfteten Dienstraum. Beim Praefurnium, dem Heizkanal, der in den Verwalterraum führt, erfasst ihn ein unangenehmer Schwindel. Vorsichtig durchquert er den kleinen, luxuriös bemalten Raum. Von hier überblickt man den Korridor und über ein korrespondierendes Korridorfenster zugleich Hof und Zufahrtsrampe. Nichts regt sich. Doch durch die Heizröhren in der Wand dringen feine Nebel, breiten sich aus und schwängern die Luft mit einem betörenden Duft. Schwer stützt sich Mercurius auf seinen Heroldsstab, den Caduceus, den er stets bei sich führt, nicht nur weil er ihm als Botschafter Immunität garantiert. Der Caduceus, in sagenumwobener Vorzeit einst ein Zauberstab, verleiht ihm magische Kräfte. Nicht umsonst wurde er in fernen Zeiten angerufen, wenn es um magische Praktiken ging. Er ist ­Mercurius Termaximus, Hermes Trismegistos und Thot in einer Gestalt. Und magische Kräfte braucht er jetzt ganz dringend, denn was mit ihm geschieht, geht nicht mit rechten Dingen zu. Bleierne ­Müdigkeit senkt sich auf seine Glieder, die ihm allmählich ihren Dienst versagen. Taumelnd schleppt er sich die Stufen hinunter in den nächsten Raum. Der Bretterboden knarrt kaum merklich. Es sind Schritte zu hören, leichte, fast schwebende Schritte, doch Merkur ist längst stehengeblieben. In der Ecke bei der Feuerstelle erkennt er undeutlich eine Gestalt. Ein Mann, auch er nackt und mit Flügeln unter den Locken. Unwillkürlich richtet Merkur den Caduceus gegen ihn. Sein Gegenüber senkt den Kopf, konzentriert sich darauf, aus einem länglichen Gefäß Tropfen einer Flüssigkeit auszugießen. In der geöffneten linken Hand hält er Kapseln von …